Die verlorene Ehre der Helena Varela
Pablo Azócar
Ich kenne sie nicht, ich hatte noch nie von ihr gehört, ich konnte nur mit Mühe ihr Gesicht erraten, auf dem unscharfen Foto, dass in der Presse erschien, doch es ist schwer, heute nicht an Helena Varela zu denken, Filmemacherin, Produzentin und Schriftstellerin, Komponistin und Direktorin der Filmwerkstatt Ojo Film, Gründerin der Escuela de Todas las Artes und des Sinfonieorchesters Orquesta Sinfónica de Niños de Panguipulli. In diesem Moment ist sie eingesperrt, in einer kalten Zelle ohne Licht, ohne Kommunikation mit der Außenwelt, ohne die Möglichkeit, zu lesen oder Nachrichten zu sehen. Sie wurde mehrfach befragt. Freunde, Kollegen und Familie wurden bedroht. Ihre Produktion wurde in einer Razzia zerstört.
Die Anschuldigungen gegen sie sind hart: ihr wird vorgeworfen, als Teil einer linksrevolutionären Einheit (MIR) Financier und intellektuelle Autorin von zwei Überfällen – einer davon mit Todesopfern- zu sein. Die Richterin Andrea Urbina verordnete ihr „präventive Sicherheitsverwahrung“ für sechs Monate, um die nötigen Untersuchungen anstellen zu können, sagte sie. Noch ist nichts bekannt über den Ernst oder die Haltbarkeit der Vorwürfe, aber die Folgen waren brutal. Die Kriminalpolizei beschlagnahmte das komplette Filmmaterial, welches sie in vier Jahren an der Arbeit an der Dokumentation „Newen Mapuche“ zusammengetragen hatte.
Das erste, was einen überrascht, ist das Verhalten der Presse und des Fernsehens. Ohne Gerichtsverfahren oder Entscheidungsfindung jeglicher Art, wurde Varela von dieser verurteilt. In der Presse beschränkte sich die Berichterstattung auf kleine Notizen auf den letzten Seiten. Niemand hat den Fall untersucht, niemand hat sich über die Filmemacherin informiert, niemand hat danach gefragt, wer sie ist oder was sie dort wirklich tat. Man beschränkte sich darauf, sie öffentlich herabzusetzen. Der Vergleich mit dem Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ vom deutschen Nobelpreisträger Heinrich Böll erscheint nahe liegend. Auch dort wird das Privatleben einer Frau von der Presse zerstückelt.
Auf den Kulturseiten der Zeitungen wurde das Thema Elena Varela so gut wie gar nicht aufgegriffen. Die Journalisten beschränkten sich darauf, die Autoritäten zu fragen, wie es sein konnte, dass eine Terroristin finanzielle staatliche Förderung (Fondart) erhält. Der Journalist, der den Fall für Televisión Nacional aufrollte, beschuldigte die Cineastin wörtlich des Verbrechens der „Vereinigung mit der Mapuche-Ethnie“. Minister Vidal und die Präsidentin Bachelet selbst billigten implizit ohne jede Grundlage dieses Urteil, als sie Entschuldigungen im Fall Fondart verlangten.
Wenn die Journalisten selbst auf ihr Recht bestehen, ihre Quellen geheim zu halten (was in den entwickelten Ländern der Welt nicht mehr diskutiert wird), warum fragt dann niemand nach Elena Varelas Recht, ihre Interviewpartner zu schützen? Warum hat die Journalistenfakultät nicht ein Wort über diesen Vorfall verloren? Wo ist die so genannte kulturelle Welt? Sollte sich über dieses Thema nicht die Kultur in ihrer Gesamtheit, vielleicht sogar die gesamte Gesellschaft Sorgen machen? Warum hat keiner der vielen Schauspieler, die im Kino oder Fernsehen auftauchen und sich sonst so gern in der Presse zeigen, auch nur ein Wort gesagt? Ist es nicht beeindruckend, dass bei einem solcher Thema die einzigen Quellen der wichtigsten Medien dieses Landes der Innenminister ist?
Der Fall von Elena Varela ist paradigmatisch. Er zeugt von einer selbstbezogenen, egoistischen, pubertären Gesellschaft, gefangen in ihrem Individualismus, ihrem Konsum und einer rette-sich-wer-kann Mentalität. Alle schauen woanders hin. Vor drei Jahren bewies eine Studie der Medizinischen Fakultät der Universidad de Chile, dass die Chilenen einen durchschnittlichen Anteil von 84 % indigener Abstammung haben. Dies gilt auch in den oberen Gesellschaftsschichten, in denen man am liebsten nur seine baskischen, französischen oder deutschen Ursprünge betont. Das Mapuche-Thema exististiert dort nicht. Es wird ignoriert und ist praktisch unsichtbar.
Dieses Wegschauen ist zum Verhängnis für Elena Varela geworden. Vier Jahre lang zog sie durch die Araukanie, sprach mit Häuptlingen und sammelte Zeugenaussagen und sah sich schließlich mit einem sehr mächtigen produktiven Sektor konfrontiert: Den Holzkonzernen. Und so erging es ihr. Ähnliches geschah schon mit zwei französischen Reportern, Christopher Cyril Harrison und Paul Rossj, die ebenso die schlechte Idee hatten, ihre Nasen in den Mapuche-Konflikt zu stecken und einen Brand zu filmen. Sie wurden am 17. März dieses Jahres in Collipulli verhaftet und misshandelt. „Sie haben uns wie Delinquenten behandelt und uns beschuldigt, das Feuer gelegt zu haben und zur ETA zu gehören“, sagt Harrison, noch immer im Schockzustand. Der französische Konsul erreichte ihre Freilassung, doch einen Tag später wurden sie auf offener Straße von einer Gruppe von mit Messern bewaffneten Zivilisten angegriffen. Sie verließen fluchtartig das Land.
Und nur zwei Wochen später, am 3. Mai , wiederholten sich diese Vorfälle, diesmal mit zwei italienischen Dokumentarfilmern, Giuseppe Gabriele und Dario Ioseffi. Handlungsort war eine Mobilisierung von Mapuche in einem Grundstück der Holzfirma Mininco, wo sie verhaftet wurden. "Wir wurden wie Terroristen behandelt, mit dem Gesicht auf dem Boden und engen Handschellen. Wir wurden beschuldigt, Holz auf dem Gelände zu stehlen." Am nächsten Tag wurden die beiden: ausgewiesen, auf italienisches Hoheitsgebiet. Die chilenischen Dokumentarfilmer bekannten an diesem Wochenende Farbe, alarmiert durch das Schicksal von Elena Varela und der Beschlagnahme ihrer Filme. Ignacio Agüero, Francisco Gedda, Viviana Erpel und Martin Rodriguez riefen zu einer Pressekonferenz, zu der mehrere große Filmemacher des Landes, wie Silvio Caiozzi, Andrew Wood, Paul Perelman, Andrew Racz und Alicia Scherson kamen, aber von den Medien kamen nur zwei Vertreter: ein Radio und eine Provinz-Zeitung. Der Kontrast mit der Masse an Kameras und Mikrophonen bei der offiziellen Pressekonferenz, zeigt, dass etwas schrecklich faul ist im Reich Chile.
Montag, 26. Mai 2008
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